Wolfgang Mocker
Tagebuchaufzeichnung
1987

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01.01. 1987
Strittmatter, Die Kleinstadt
Esau Matt füttert und pflegt eine junge dohle, die dohleneltern aus dem nest stießen. Nach drei tagen ist die dohle tot. Am after, sieht Esau, hatte sie eine wunde, in die schmeißfliegen ihre eier legten und wo jetzt maden leben. Matt hat den tod drei tage verzögert und sich in vorgänge eingemischt, die ihn nichts angehen. Darf er das, fragt sich Strittmatter.
Wie klein er auch sein mag - in einem bestimmten engen lebenskreis kann sich keiner heraushalten. Man kann diesen kreis erweitern. Indem man seinen machtkreis erweitert. Als leiter, als politiker, als künstler. Man greift immer tiefer ein in die welt - und überblickt immer weniger die folgen...
Liegt auch hier in der beschränkung der meister?
Zwingt uns unser ordnungssinn, auf jede frage eine klare antwort zu suchen?
Auch hierbei gehts wohl vom kleinen ins große. Das tägliche leben erfordert bestimmte antworten von uns. Je tiefer wir uns einlassen in diese art von "geschäft" - zb. als philosoph oder wissenschaftler - desto mehr verstricken wir uns in komplizierten fragen und antworten.
Lebt, wer sich in dieser frage beschränkt, nicht glücklicher?

28.02. 1987
Lieber Vater,
es ist wieder ein bißchen wärmer geworden. Nebel liegt über den häusern und straßen, so daß die welt ganz friedlich aussieht.
In der CSSR sollen schon lerchen und stare zurückkehren.
Der schnee schmilzt, der frühling frohlockt.
Wenn ich vom schreibtisch auf- und aus dem fenster schaue, sehe ich leider nicht sehr viel von der welt: einen neubaublock und einen grauen streifen himmel. Aber in gedanken sitze ich am "hausplatzfenster" in Neu-Alp und sehe: die weiße elster, die enten, die tauben, die möwen, die kastanienbäume, den schwarzen steg und die Külzbrücke.
Die welt ist schön wie das leben in ihr, und niemand kann die welt und das leben mit den augen eines anderen sehen.
Unsere ansichten über beide jedoch können wir menschen austauschen. Und auf diese weise sehen wir immer mehr und immer besser.
Doch wir behalten noch viel zuviel für uns und reden noch viel zuwenig über das EIGENTLICHE. Stattdessen schwätzen wir banales zeug und wissen somit fast gar nichts voneinander. Warum das so ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht scheuen wir uns, über das wichtige zu sprechen, weil das wichtige natürlich immer einen lebensnerv berührt. Vielleicht haben wir angst vor den lebensfragen, weil sie die fragen des todes einschließen. Lieber reden wir uns aufs alltägliche hinaus und so über unser leben hinweg.
Wir beide aber, lieber vater, werden es anders halten, nicht wahr?
Es grüßt dich von ganzem herzen und vielmals dein sohn.

13.06. 1987
In meiner mappe liegt das erinnerungsbuch meines großvaters, ungelesen. Da liegt, schrieb mein vater, als er noch lebte, so ein "schrieb" jahrelang im dunkeln, und plötzlich fällt ein "sonnenstrahl" darauf....
Schrieb nicht auch Strittmatter, daß wir menschen vielleicht unbedeutende sandkörner seien, aber eines tages für einen moment aufleuchten, wenn ein sonnenstrahl in günstigem winkel uns trifft.

DDR-rundfunksender: Neue stimmen. Eine frauenstimme, die Nicole M. (vom RIAS) gehören könnte. Eine männerstimme, die an Heiner G. erinnert....!
Am ende ähneln die gegner einander total!- - -

Musiktitel: VERBOTENE SÜNDEN
Ich stell mir palastrevolutionen, katastrophen, persönliche tragödien, lieben und erotische situationen vor. Verboten? Pervers? Aber ich denke das doch!
Andere schreiben es bloß nicht auf.
Lassen es im unterbewußten.
Verdrängen es sofort wieder.
.....Verboten? Wir dürfen alles, was uns spaß macht. Und nicht alles, was verboten ist, wäre wirklich möglich. Aber das mögliche sollten wir wenigstens tun. Und denken!.....

15.06. 1987
Bin ich eigentlich gegen die leistungsgesellschft? Vor allem bin ich gegen die bedingungen, unter welchen ich leistungen bringen soll: neid, konkurrenz, gewisse erwahrtungen, normen etc.

28.06. 1987
Sonntag. Fahnen-flucht: verlängerter kurzurlaub. Gestern T. zu besuch, auf der durchreise zu seinem gartengrundstück.... Sie wollen mich zum großen berliner festumzug einladen.
T. muss die EULE aus pappe auf dem lastwagen drehen. Die kehrseite dieser eule: ihr nackter arsch. Den dreh ich aber nicht nach vorn, wenn ich an Honecker vorbeifahre, sagt T. Warum denn nicht, ereifere ich mich, die gelegenheit kriegst du nie wieder im leben! Honecker den nackten arsch zu zeigen! Ich würde es machen!!!
Ja, du, sagt T. müde, du bist ja auch noch jung....

03.07. 1987
BMP. Russisches kürzel für das gefechtsfahrzeug der motschützen.
Ein kettenfüßler! Der sich durch die landschaft frißt. Wo er ist, wächst kein gras mehr.
Da wächst nur noch staub.
Ein grüner kettenfüßler aus stahl.
In seinen eingeweiden: menschen.
Im gefecht scheidet er sie aus wie ein gift.
Außerdem verschießt der kettenfüßler granaten.
Sogar notdürftig schwimmen kann das kettentier.

Elend der menschen tod im kettenfüßler.
Stahlsarg auf ketten. Ohne große aussichten.
Auf erfolg. Oder überleben.

Das menschenleben endet bereits hinter dem stahlafter der tieres. Man ist nur noch eingeweide. Man sieht nichts. Keine möglichkeit zu handeln.
Nur noch auf befehl!

.... Der MEISTER, schreibt Bulgakow, sei schwerfällig und mißtrauisch zu anderen menschen. Ich strich die stelle seinerzeit an!
Vielleicht war B. ähnlich? Vielleicht müssen solche leute so sein?
Eine großartige idee: den teufel in Moskau auftreten zu lassen.

Pervers: hier hab ich zeit und kann nicht nachdenken. Zu hause könnte ich arbeiten, hab aber keine zeit, weil die arbeit ständig drückt. Davon müsste ich mich frei machen. .... Aber wovon dann leben?
Teufelskreise. Eins schließt das andere aus oder ist doch der preis des anderen.

17.07. 1987
Unsere ideale sind alle von der gleichen art: Ein platz an der sonne! Aber möglichst im schatten.
... Der spaß am schreiben kehrt langsam zurück.

MEIN LIEBSTER SCHOLLI,
wie findest du eigentlich die anrede?
Würde Heine heute nicht auch so schreiben?!
Und ist Büchners LIEB KIND nicht auch ein bißchen selbstironisch?- - -
Drei Briefe inzwischen von dir. Meine lust, zu schreiben, war auf dem nullpunkt angelangt. Aber nun seh ich wieder licht am ende des tunnels. Letzte woche wieder zwei tage im feld. Mit einer mörderischen regennacht, in der wir FREI - WILLIG den "vollschutzanzug" anlegten... Nun noch eine woche mit 2X2 solchen tagen. Danach polit und abgabe der klamotten und abwarten und kaffee schlürfen.
Und dann. Aber dann. Fangen wir wieder zu leben an.
Und alles wird ganz anders.
Als wir gedacht haben.

01.08. 1987
Aus alten tagebuchgedanken von 82 einen neuen aphorismus gekeltert: Wir könnten sofort den kommunismus aufbauen. Wenn wir das zeug dazu hätten.
Ja, was denn nun? Können wir den kommunismus aufbaun?
Fehlt uns nur der mut? Fehlt uns wohlstand?
Ist der kommunismus möglich?
Ich ertappe mich bei unverbindlicher doppeldeutigkeit. Der spruch (wie viele andere von mir) ähnelt den doppelsinnigkeiten alter wahrsagerinnen. Magie? Scharlatanerie? Realistische magie. Magischer realismus. Ala Marquez?

02.08. 1987
Sonntag. Bin seit freitag in die freiheit entlassen, mit der ich noch nicht viel anzufangen weiß. Ratlos durch P. geschlendert. Urlauber. Kaufwütige.
It's a stupid game. Santana.

Ganz mählich komme ich wieder zu mir. Selbst.

Hätte fast vergessen, mich von Z. zu verabschieden. Unsere wege trennten sich in S.; er fuhr nach G. in den süden. Ein vierteljahr waren wir gezwungen, zusammenzuleben - für den frieden!/!

15.08. 1987
VATER
Viele gute charaktereigenschaften lassen sich aufzählen: Er war gütig, hilfsbereit, bescheiden, liebte seine heimat, das vogtland.
Er machte seine arbeit, war gern tätig, ungern untätig. Überall versuchte er sich nützlich zu machen, nutzen zu stiften.
Nach dem krieg begann er die welt und die politik zu durchschauen.
Was müßte man an ihm kritisieren?
Vielleicht war er zu gutmütig, zu bescheiden.
Manchmal war er jähzornig. Doch dieser jähzorn war die kehrseite seiner gutmütigkeit.
Wie konnte er ein so guter mensch werden?
Er stammte aus einer 14 köpfigen arbeiterfamilie. Dennoch wurde er kein trinker, kein arbeitsbummelant. Schlug seine frau nicht. ....

Neuer stil im tagebuch: auch mal bloß stichwörter aneinander reihen. Z.b. so:
Samstag. Ordnung schaffen. Kraftwerkmusik. Schüchterne augustsonne. Stritti ist 75. Krise beim schreiben. ... Musik machen.

19.08. 1987
Vielleicht ein glückstag, dieser Mittwoch!
Seit monaten suche ich die form für die mitteilungswürdigen dinge aus meinem leben, um diese dem werten leselandpublikum meiner republik "verkaufen" zu können.
Lange schwankte ich zwischen Brauns unpersönlicher prosagebärde und der allzu trauten erzählerpose Strittmatters.
Eben aber besann ich mich auf meine vermutlich einzige stärke: das briefeschreiben! Und vor allem: was ist es wirklich wert, anderen mitgeteilt zu werden? Da schien mir B. das beste kriterium zu sein. Was meinen freund B. interessieren könnte, würde vielleicht auch andere leser nicht ganz kalt lassen.
Und: die schreibsituation selbst käme hinein ins literarische werk. Wechsel von gegenwart und vergangenheit.
Vielleicht sogar theoretisches?
Doch womöglich ist auch dieser TRICK 17 nur eine meiner unzähligen schnapsideen. Und bald ist der rausch ausgenüchtert. ....

25.08. 1987
Geburtstagsrummel in HONIWOOD, der hauptstadt dieser lieblichen republik. Der alte läßt sich feiern. Das beste an ihm: seine vergangenheit!
Was man nicht von jedem politiker sagen kann!
Aber. Schlimme finanzielle zwänge: rentner kriegen 15 westmark. Giftmüll wird ins land gekarrt. Für westgeld. Politische häftlinge werden in den westen verschuppert. Für west. Westberlin darf uns das abwasser reichen, rüberreichen. Für west. Shop-waren verwirren das leistungsprinzip. Für west. Erst gab es keine selbstschußanlagen. Dann wurden sie abgebaut. Für west?
Erst hatte kein mensch die absicht, eine mauer zu bauen. Dann stand sie plötzlich, über nacht.
Und alles solche linken dinger, verdammt!

Demokratie: die raffinierteste form der diktatur!

Nochmal zum geburtstagskind: Honi muß nicht von der GNADE DER SPÄTEN GEBURT sprechen. Wie der kanzler der anderen republik. Wieviel jünger ist der knilch eigentlich? Jahrgang 1930?

04.09. 1987
ANRUF GENÜGT NICHT
Die zwänge des lebens haben mich aus Neu-Alp, meiner heimatstadt, vertrieben. Der zufall lockte mich in die hauptstadt. Hier habe ich eine arbeit, und in einem dorf nahe der großstadt eine kleine wohnung. Ich war in Neu-Alp unzufrieden, und ich bin es auch hier. In der heimat war mir zu wenig trubel, und in der großstadt ist mir zuviel trubel. Noch gibt es auf erden keinen ort, an dem alles gute beisammen wäre.
Also fahre ich an jedem wochentag von dem dorf, in dem ich geruhsam wohnen kann, in die großstadt, in der ich viel hören und sehen und arbeiten kann. Drei stunden jedes arbeitstages verbringe ich mit dem standortwechsel. Zeit ist geld, und ich lasse mir den künstlich hergestellten kompromiß zwischen ruhe und trubel etwas kosten. In Neu-Alp war er billiger zu haben, denn da hatte ich kleinstädtischen frieden und städtisches leben an ein und dem selben ort. Doch die scheinbare idylle hatte ihren aufpreis: das stadtleben war weniger aufregend als in der großstadt, und ruhe und beschaulichkeit waren nicht dörflich: es gab sie nur auf bestimmten inseln in der stadt.
Auch dieser kompromiß war also bloß um einen bestimmten preis zu haben. Gewinn und verlust hielten einander die waage wie überall auf der welt.
Und ich war also dort unzufrieden, und ich bin es nun auch hier.
....Mit meiner heimat bin ich nun vor allem telefonisch verbunden. Ich greife zum hörer, wenn jemand geburtstag hat, und ich rufe an, wenn ein familienmitglied erkrankt ist.

26.09. 1987
DAS HIMMELBLAUBUCH: Sostschenko schreibt über weltgeschichtliche episoden in alltagssprache. Das holt die geschichte in die gegenwart und läßt gegenwart als potentielle geschichte erscheinen.
Geldgier, arglist und lüge werden aus den immer gleichen quellen gespeist: den objektiven widersprüchen.

26.09. 1987
MEIN LIEBER FREUND,
The Secret Life Of Plants dreht sich auf meinem plattenteller. O. brachte dieses album von Stevie Wonder aus der brd mit. Kurz danach starb mein vater. Du weißt von meinem musikalischen zusatzgedächtnis! Zu jedem lied von früher fällt mir eine episode ein.
Dieses album nun ist der grabgesang zu meines vaters tod. Und als ich im verschneiten Neu-Alp zur beerdigung war und der leichnam meines vaters unter den öligen klängen des liedes "´s is Feierohmd" versenkt wurde, hätte ich viel lieber eines der wonderlieder gespielt gehört.
Nun hör ich diese musik wieder, und es ist, als müßte ich gleich wieder zur beerdigung. Ein pawlowscher reflex?
Eigentlich war das album als filmmusik gedacht. Der film ist nie gedreht worden. Die musik ist da, aber auch kein bestseller geworden. Sie ist also wirklich stark!/!
Der film dazu lief vor meinen augen ab.

Wolfgang Mocker

© 2010 Viola Mocker Berlin · www.mocker-aphorismen.de
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