Wolfgang Mocker
Tagebuchaufzeichnung
1988

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15.01. 1988
Die arbeit muß ein bedürfnis werden, sagt behling, im kommunismus. Er meint ein bedürfnis wie seine kunstarbeit. Er geht von sich aus.
Aber es gibt arbeiten, die werden dem menschen nie ein bedürfnis sein, sondern verschwinden. Und wenn endlich die arbeit zum bedürfnis werden könnte----wird sie nicht mehr vom menschen gemacht werden.---

17.01. 1988
Nachtrag zur justiz im dritten reich:
Bei uns wurde mit dem faschismus ziemlich rigoros abgerechnet. Doch gerade aus der rigorosen ablehnung jener gewalt von damals wird heut die moralische berechtigung für die neue gewalt gewonnen. Wieder wird das recht zu neuen gewalttaten aus alter gewalt abgeleitet. Zb ist die partei bei kritik schnell mit dem klassenfeind zur hand. Dadurch kehrt sie eigene schuld in schuld der kritiker um, die angeblich schaden stiften wollen. Wobei doch der schaden, die mängel in der regel durch die partei verschuldet sind.
Der mechanismus ist also im grunde derselbe.
Nach dem attentat auf hitler befragt der richter einen beteiligten nach dessen schuld und eingeständnis. Der aber redet von den verbrechen des systems.
Der richter: Sie elender lump!

KARL&ROSA. Friedensgruppen wollten sich an der offiziellen demonstration beteiligen. Mit transparenten. Mit ROSA- losungen wie: FREIHEIT IST IMMER DIE FREIHEIT DER ANDERSDENKENDEN. Die andersdenkenden, die unzufrieden mit den herrschenden sind. Die unterstützung finden bei den anderen herrschenden, die gerne jene herrschende verdrängen würden von der herrschaft, die diese wiederum nicht im traum aufzugeben denken und darum ihre andersdenkenden unterdrücken. Und die andersdenkenden könnten unter der neuen herrschaft dann anders denken. Obwohl sie auch umdenken müßten!/! Und die andersdenkenden auf der anderen seite? Die auch unterdrückt werden, die anders denken als ihre herrschaften, aber diese immer noch unseren herrschaften vorziehen?
Die andersdenkenden. Die sich öffentlich artikulieren wollen. Und die anderen andersdenkenden. In der partei. Im betrieb. In der familie. Die sich anpassen. Aber. Die ihre interessen unter dem deckmantel der anpassung verfolgen.
Mit erfolg zumeist.
Sie verzichten auf freie meinungsäußerung, wenn sie nur ihre ziele erreichen.
Das ziel der anderen: freie meinungsäußerung. Wozu? Vielleicht gehört auch das zur lebensqualität. Daß man einfach sagen kann, was man denkt.
Zb über umweltfragen. Ankauf von westberliner müll. Eine entscheidung der partei. Aus ökonomischen gründen. Im geheimen entschieden. Über die köpfe des landes hinweg!/!
Möglich, daß viele dagegen wären.
Möglich, daß sie sagen würden:
Laßt uns die nötigen devisen auf andre art erwirtschaften!
Aber da ihnen notwendigkeit und information und entscheidung abgenommen, abgeknöpft wurden, fehlt ihnen zunehmend auch die lust, devisen zu erwirtschaften. Zumindest ohne den nötigen druck. Fehlen ihnen zunehmend initiative und ideen.
So geht die partei ständig den weg des geringsten widerstands. Müll kaufen statt knowhow der müllbeseitigung verkaufen. Entscheidungen fällen statt entscheidungen mit allen treffen. Andere meinungen unterdrücken statt meinungsstreit fördern. So macht sich die partei die arbeit leicht. Es geht.
Aber es ginge vielleicht besser. Ein teufelskreis für die partei. Und das volk braucht eine engelsgeduld.
Der weg des geringsten widerstandes ist der der geringsten reibung. Da wird am wenigsten energie freigesetzt.

24.01. 1988
Sonntag. Von der johanneskirche her läuten die glocken. Über die külzbrücke kreischen straßenbahnen.
Im radio: DAS KLINGENDE SONNTAGSRÄTSEL mit hans rosenthal, dem publikumsliebling.
Vater und mutter reiben kartoffeln für die grünen klöße.
Ich sitze im hausflur am fenster, rauche und schau den enten auf der weißen elster zu; und ich weiß noch nicht, was ich will.

01.02. 1988
Volker Brauns "Transit Europa" im DT.
Haben die burschen also nicht umsonst gepfiffen. Und zwar sowohl bei erscheinen Solters als auch bei Brauns erscheinen auf der bühne. Sonst hätte man ja nicht gewußt, ob sie nur die inszenierung oder nur das stück meinen!/!
Also bezahlte buher?
Ich bin davon überzeugt.
Bevor bei uns jemand buht (wo auch immer!/!), muß etwas entweder ganz, ganz schlecht sein, oder eine anweisung von ganz, ganz oben ergehen...!/!
vieles erinnert jetzt ans dritte reich. Aber natürlich bleiben die säcke selbst in dieser beziehung eine ganze nummer darunter....

ÜBRIGENS kann einem Hören und Sehen jetzt sogar in Stereo und Farbe vergehen.

Wer sich rechtzeitig ändert, braucht sich nicht anzupassen.

Der Zweck - ein Universalmittel.

Das Beispiel der Besten: ein Beratungsmuster.

....Ich weiß gar nicht recht, was ulkiger ist: meine aphorismen oder die kommentare des chefreds.

13.02.1988
Überall. allüberall diese beschränkung ins eigene (familie, fachgebiet). Keine offenheit. Schon gar nicht weltoffenheit. Oder wenn, dann doch wieder bloß auf einer spezialstrecke. Daher die allgegenwärtigkeit von provinzialismus.
Aber: man kann nicht alles haben, machen, leben.
Daraus folgt armut. Reichtum: reichtum an beziehungen.
Zu anderen habern, machern, lebern. Menschen.
Aber auch zu maschinen, computern, tieren, pflanzen.

14.02.1988
Als am freitag ein bus ausfiel, schimpfte ein arbeiter hinter mir: Typisch sozialismus, typisch volkswirtschaft, wenn wir so arbeiten würden... Und: Drüben fangen die märchen mit ES WAR EINMAL an, hier mit ES WIRD EINMAL...
Da hab ich also einen arbeitergedanken in meinem aphorismus aufgegriffen. Darüber bin ich besonders stolz!!!/!

15.02.1988
In dresden wieder viel aufmüpfigkeit. Vor allem bei ausreisewilligen. Die haben nicht viel zu verlieren. Aber eine welt zu gewinnen!/!
Erst um mitternacht griff die stasi ein. Löste die versammlung auf. Vorübergehende verhaftungen. Die meisten freigelassen.

Wenn die partei sich nicht die vorschläge der leute anhört, wenn keine öffentliche erprobung aller möglichen ideen vonstatten geht, dann werden die meinungen (und illusionen) des volkes am ende immer schrulliger; dialog wird dann immer schwieriger. Je länger das schweigen anhält.

Die wohnungsfrage. In vielen ausreisefällen spielt sie sicher keine unerhebliche rolle.

Die zeichen stehen jedenfalls auf sturm. Im wasserglas. Ddr.

03.04.1988
Die Strittmatter liest neue alte briefe im radio.
Briefe von ganz verschiedenen menschen, leben.
Reiches leben der empfänger dieser briefe.
Tostoische gedanken und haltungen. Abwehr von oberflächlichkeit. Abkehr von freunden. Erinnerungen.
Aber auch: suspektes. Mystizismus. Religion. Eitelkeit, was das werk betrifft. Gier nach bestätigung. Sucht nach harmonie.

Ich schreibe kaum noch briefe. An wen denn?
Jetzt eine fiktion: BRIEFE AN TOTE.
MEIN LIEBER VATER; MEIN LIEBER FREUND; LIEBE L.; MEIN LIEBER, LIEBSTER SCHOLLI.

09.04.1988
Der kritiker K. schien mir hilflos vor Brauns neuem stück. (...) Ich würde an mir selber zweifeln, hätte nicht ein mann wie Christoph Hein bestätigt, daß die kritik hilflos vor neuen werken wie dem HINZE=KUNZE=ROMAN steht.
Unfähig zu einer meinung oder gar einem - urteil.

Vieles in meinem verhältnis zur welt spitzt sich nun wieder zu.

Die schönste zeit, die wir haben, ist jene, in der wir leben.

Pasternak wurde postum in den verband der sowjetischen schriftsteller aufgenommen. Wäre es nicht das beste, überhaupt nur noch tote schriftsteller in den verband aufzunehmen?

15.04.1988
TOLERANZ
Immer wieder treffe ich auf gedanken, ansichten, handlungen und gefühle, die von den meinigen abweichen oder ihnen entgegengesetzt sind. Statt dem "natürlichen trieb" zu folgen, diese bekämpfen zu wollen, sollte ich stets fragen: warum haben andere andere gedanken usw.
Nur dies könnte die eigenen kenntnisse erweitern.
Abgrenzung hingegen führt zu armut und isolation.

Trotzdem heut morgen wieder gestritten mit Klö und F.

10.05.1088
Dienstag.
Früher, also am wildpark, kam ich mit dem zug gegen sieben die kleine schleife an unserem alten, baufälligen haus entlanggefahren, sah das licht in unserer wohnung und meine liebe frau darin....
Ich aß abendbrot und setzte mich an den schreibtisch und arbeitete an der passivistenseite bis in die nacht.Ohne unterbrechung, ohne fernsehn.
Bei billigem tee und billigen zigaretten.
Heute komm ich gegen fünf oder sechs mit dem bus, schalte beinah regelmäßig gegen sieben den fernseher an, eß dabei hastig abendbrot, rauche CLUB und trinke bohnenkaffee - und es kommt auch nicht mehr dabei raus.
Nur die BETRIEBSKOSTEN sind enorm gestiegen!/!
Fast wie in unsrer modernen wirtschaft.

Während der busfahrt, ich las Tolstoi, - ein schlag gegen den bus. Ein schlagloch? Ein federbruch? Ein radfahrer gar? Ich schau mich um: durch das hintere busfenster seh ich: eine tote katze liegt am straßenrand. Ein schlag, aus, vorbei. Verweht, nie wieder.
Nicht schlimm, sagt mein verstand: es gibt viele katzenleben, das tier hatte ein paar schrecksekunden und kaum schmerzen, eine materieform ging in eine andere über.
Der bus fährt, das leben geht weiter.
Und doch traurigkeit für einen kurzen moment. Ich wittere für eine kleine weile - mein eigenes ende.

07.06.1988
Nirgendwo geht es wirklich um die menschen. (...)
Hinter jeder politik lauern unpopuläre sachzwänge. Da politiker politiker bleiben wollen, können sie diese zwänge ... nicht einfach eingestehen...
An der spitze der gesellschaft steht also eine schicht von politikern (und/oder finanziers), die einerseits den tatsachen ins auge sehen und das ganze lenken müssen, andererseits aber sich hüten müssen, etwa dem volk die ganze wahrheit zu sagen. Das volk würde sie lynchen. Und sich andere politiker wählen, die ihnen die lage in besserem licht schildern, wenngleich sie ebenfalls den sachzwängen genüge tun müßten.
Das volk will also möglichst schlau verarscht werden.
Dazu ist die bürgerliche demokratie bislang am besten geeignet.

Wolfgang Mocker

© 2010 Viola Mocker Berlin · www.mocker-aphorismen.de
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